Lesen macht die Seele reicher

Lesen macht die Seele reicher Youssef Zemhoute Schriftsteller Berater 2023

Lesen macht die Seele reicher

Literatur ist eine Quelle der Inspiration. Jede Gesellschaft darf literarischer Kraft nicht entbehren, will sie auf die Zukunft und ihre Herausforderungen vorbereitet sein. Es gibt eine große Vielfalt an Literatur, eine Zunahme multilingualer Rezeptionen und ein wachsendes Potenzial an digitaler Verfügbarkeit. Gerade deshalb ist Medienkompetenz eine bedingte Fertigkeit, um in diesen Tagen nicht den Verstand zu verlieren. Der Literalismus ist einer von vielen Krankheiten, die uns heute plagen. Er kann als „der Glaube an die Eindeutigkeit aller Dinge“ und als „der Glaube an die Wortwörtlichkeit alles Gesprochenen“ umschrieben werden. Dieses literarische Verständnis existiert in vielen Köpfen, wobei es zahlreiche Gemüter verzerrt. Nichts deformiert den Charakter so sehr, wie steinharte Glaubenssätze, die das Interpretationsspektrum austrocknen.

Der Literalismus ist eine Ideologie, die uns daran hindert, zusammen zu kommen, weil wir dem Leben die Eindeutigkeit abverlangen, obwohl das Leben an sich nicht wirklich eindeutig ist. Sprache funktioniert nicht über Eindeutigkeiten. Sie wächst dabei nicht, sondern verkommt sie, so dass die Stilistik darunter leidet. Die Sprache ist nicht nur Instrument, sondern ein Teil von uns. Es gibt unzählige Sprachen, die allesamt lernbar sind und uns auf fantastische Art bereichern. Sprache führt uns Menschen zusammen, vereint uns, erzeugt ein Miteinander, weil man sich geachtet fühlt. Man versteht sich und tauscht sich aus, erkennt Welten, die man zuvor nicht wahrgenommen hat. Nicht nur das Sprechen, sondern auch das Lesen macht die Seele reicher.

Lesen stärkt die Seele

Wer meint, dass alles eindeutig sein muss, der irrt sich. Der Literalismus ist keine Ideologie, die bibelfesten Tyrannen aus dem europäischen Mittelalter zuzuschreiben ist, sondern fußt sie auf einen menschlichen Makel. Wir bevorzugen die Einfachheit der Dinge, das Vertraute und verabscheuen oftmals fremdartige Dinge, Gedanken, Gefühle, da sie eine biographische Wertung haben und i. d. R. allen persönlichen Konventionen widersprichen. Sähen wir die Bedeutungen nicht allzu eindeutig, dann beginnt die Selbstreflexion, durch die wir uns selbst entwickeln. Wir würden uns nicht mehr mit anderen Menschen streiten, sondern mit uns selbst ringen und dadurch streitbarer werden. Tägliche Lektüren helfen uns dabei, die Selbstreflexion zu üben, indem wir in die Tiefe eines Textes gehen. Beim Lesen gehen wir nämlich nicht nur in die Tiefe eines Textes, sondern ebenfalls in unsere persönliche Seelentiefe.

Wer kennt sich heute im 21. Jahrhundert selbst besser als er andere zu kennen glaubt? Wir übernehmen eindeutige Bedeutungen für uns selbst, weil sie uns das „Leben“ erleichtern, und nicht weil sie wahr sind. Wir schreiben uns sehr gerne einer Partei, einer Religion oder gar einer neuen Bewegung zu, so lange wir dabei eine Eindeutigkeit verkörpern, bestenfalls in Form einer Rolle. Verkörpern ist das Unwort der Stunde. Wir verkörpern nur noch, beseelen aber nichts mehr. Das lässt sich an unserem Sprachstil ablesen. Wie können wir uns da noch selbst als Menschen erachten? Wir sind Extremisten, Chauvinisten, Faschisten, Fatalisten, Narzissten und Egoisten. Bei jeder Lektüre spiegeln wir uns selbst, denn wir lesen mehr von uns in einen Text hinein, als dass wir etwas aus ihm herauslesen.

Machen wir uns nichts vor! Literalismus nehmen wir als angenehm wahr. Wir reduzieren alles auf seine mathematische Bedeutung, und auch das meinen wir nur, weil wir auch von Mathematik nicht viel verstehen. Natürlich gibt es Dinge, auch in der Sprache und in unserem Leben, die eindeutig sind, die uns gar allzu einleuchtend begegnen, aber das sind sehr wenige Dinge. Im sprachlichen Sinne ist alles im Wandel, während im Laufe der Zeit Bedeutsamkeit hinzu kommt, sich wie eine Lotusblume langsam eröffnet. Ist dies der Grund, weshalb das Lesen von Büchern vielen Menschen schwerer fällt? Hat der generelle Literalismus mit unserer digitalisierten Schnelllebigkeit zu tun?

Lesen wirkt Literalismen entgegen

Wenn wir unsere Existenzen mit numerischen Formeln ausbessern, dann werden wir zu berechenbaren Wesen, ja, zu Maschinen, denn das Wesen einer Maschine ist ihre Eindeutigkeit. In keiner Roboterfabrik dieser Welt wird eine Maschine anfangen zu sprechen, ohne dass es ihr durch Algorithmen eingetrichtert wurde. Wir Menschen aber sind keine algorithmischen Wesen. Wenn dem so wäre, dann könnten wir eines Tages berechnen, wann und wo genau wir stürben. Sind wir wirklich so arrogant geworden, dass wir nicht mehr hinnehmen wollen, dass es Dinge gibt, die uns auf ewig verborgen bleiben werden? Prinzipiell gilt das Gesetz der Infinitia: Egal, wie viel wir wissen, bleibt das, was wir wissen, immer kleiner als das, was wir nicht wissen.

Literalismus fördert den Starrsinn, nährt die Wut und den Hass. Er macht gemeine Menschen aus uns, weil wir keine Variablen mehr kennen, sondern alles für uns eine konkrete Zahl ist, mit einer konkret nicht verstellbaren Bedeutung und nichts wird uns davon abhalten, einander zu verstehen, wenn wir glauben, dass wir alle ganz eindeutig sind. Eindeutig sind nur antike Helden, die, wenn sie schon sprechen, allzu berechenbar sind. Wäre es nicht viel interessanter mit einem Taxifahrer zu sprechen als mit Herkules? Oder lieber mit dem Nachbarn, den man oft gar nicht kennt, als mit Orpheus. So eindeutig wie ein Held ist weder ein Mensch, noch eine Erkenntnis. Liest man sich durch völkische, altertümliche Mythen, so spürt man fast die Bandbreite des Lebens aus einem Buch heraus.

Warum wollen wir eindeutig sein, wo wir doch so viel mehr sein können? Meine Schlussfolgerung für jeglichen Literalismus ist, dass er nichts weiter als unsere Ängste erhält, die unser Leben berechenbarer bleiben lassen. Die Schule ist ein Hort der Eindeutigkeiten, die Universität, ein Ort der scheinbaren Zweideutigkeiten, wobei der Doktor besser zum Verstehen qualifiziert sei als der Student, und der Professor besser als der Doktor, und die Dekanin stets Macht behält, weil sie bestimmt, wer seinen Arbeitsplatz behalten darf und wer nicht. Es sei hier angemerkt, und das merken wir in Krisenzeiten besonders schnell, dass die Wissenschaftler ebenso zum Verkommen der Sprache beitragen. Wer eine wissenschaftliche Arbeit liest, kann mittlerweile erkennen, von wem sie finanziert wurde, weil das Interpretationsspektrum stilistisch verengt wird.

Wenn Sie zu den "besten" gehören wollen, lassen Sie die Menschlichkeit zu 100% aus Ihren wissenschaftlichen und beruflichen Arbeiten heraus. Bleiben Sie mathematisch, berechnend, und man wird Sie anbeten. Die meisten Berufe sind wie Höhlen für die Seele des Menschen. Ohne  Sinn ist es nicht möglich, zu sein, einfach zu sein und sein Leben zu leben. Sogar Pflanzen, Tiere und Insekten leben sinnvoll. Wir studieren sie und beobachten es. Wie können wir einfach sein oder werden, wenn nicht einmal mehr die Aussagen unserer Mitmenschen Sinn ergeben? Was ist eine Sprache wert, die keinen Wert mehr auf Sinn und Mehrdeutigkeit legt? Kann man von Kommunikation sprechen, wenn Interpretationen nur noch in der Einzahl möglich seien? Die letzte Frage beantworte ich mit Nein. Es handelt sich um Literalismen, die Existenzen zerstören. Es gilt das Prinzip: Je mehr man liest, desto reichhaltiger wird die eigene Seele. Mit dieser gewonnenen Reichhaltigkeit ist man vor jedem Literalismus gefeit.

 

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