Wer Kinder hasst, hasst seine eigene Kindheit
Es ist äußerst fragwürdig, bei jedem Kindesmissbrauchsskandal, der Schlagzeilen macht, auf staatlicher Seite nach mehr Bestrafung oder gar härterer Bestrafung zu rufen. In keiner Weise wird den Kindern damit geholfen. Abgesehen davon, gibt es eine grundlegende Frage, die sich niemand stellt. Warum sind Kinder in unserer Gesellschaft nicht mehr sicher?
Im Laufe der Geschichte hat sich das Kind immer bewährt, wobei es als körperlich schwächstes Mitglied immer auch dasjenige war, das am meisten gelitten hat und missbraucht wurde. Kinder sind aus genau diesem Grund die Gruppe unserer Zivilgesellschaft, die bis heute verachtet und unterdrückt wird wie keine andere, wobei sie sich nicht organisieren können. Dies geht einher mit der Annahme, dass Erziehung und Bildung staatlich bevormundend sein müssten. Dabei ist es völlig klar, dass Kinder alles andere als “dumme” oder gar als “geistesabwesende” Menschen angesehen werden dürfen. Kinder haben ein Eigenleben, das sich von dem eines Erwachsenen unterscheidet. Was sie aber von allen anderen Menschen unterscheidet, ist ihre Wehrlosigkeit.
Nichtsdestotrotz haben sie gleiche Rechtsansprüche wie alle anderen Mitglieder der Gesellschaft. In besonderem Maße sollte ihr Recht auf Familie bestärkt werden. Aber wo sind diese Familien? Wir haben unsere Gesellschaften so aufgebaut, dass Kinder nicht mehr dabei sind. Sie werden isoliert, sobald sie in den Kindergarten können. Manche Kinder kommen sogar schon früher in eine Kindertagesstätte. Dort lernen sie andere Kinder kennen, sie erfreuen sich evtl. an sozialen frühen Erfahrungen, aber sie pflegen keinerlei Selbstkultur. Ich rede dabei nicht von Essen, Trinken, Waschen, etc., sondern vor allem vom Innenleben des Kindes. Für ein Kind ist das Selbstempfinden und das Fremdempfinden der Welt ein einziges. So wie seine Welt auf das Kind reagiert, so reagiert das Kind sein ganzes Leben lang auf sich selbst.
Nachdem ein Kleinkind etwas älter geworden ist, kommt es in die Verschulung. Man beschult es so lange, bis es letztendlich die Reife zur Produktivität erreicht. Auf Basis dieser Produktivitätsreife wird das Kind auch benotet. Folglich hat das Kind überhaupt keine Kindheit mehr. Es entwickelt sich so schnell unter dem sozialen Druck, dass die Pubertät als problematisch angesehen wird. Die Pubertät aber ist eine sehr wesentliche Phase für die Jugend. Wird dem Kind auch in seiner Jugend diese Phase verwehrt, kommt es zu etwaigen charakterlichen Verzerrungen und einer allgemeinen Abneigung gegenüber dem Innenleben.
So hart es auch klingen mag, die meisten Menschen, die so aufwachsen, haben gar keinen Umgang mit dem persönlichen Innenleben, denn sie lernten nie – oder das Gegenteil -, dass es a) so etwas gibt und b), wie wichtig es ist. Man wird Schwierigkeiten haben überall in unserer Gesellschaft, Kinder zu sehen, und genau das ist das Problem. Sie sind nur an für sie vorgesehene Orte zu finden, und in allen anderen nicht. Das ist ihre Isolationshaft. Es wäre wesentlich sinnvoller, die eigenen Kinder dabei zu haben, sofern es möglich ist, aber das ist es nicht. Ich rede nicht über die Eltern, die das nicht wollen, denn jene Eltern haben ganz andere Probleme.
Ich rede über die Eltern, die es sich wünschen, aber nicht dürfen. Es gibt nämlich keinerlei kinderfreundliche Infrastruktur in unserer Gesellschaft. Haben Sie mal eine Kinderbank gesehen? Oder einen Ampelschalter für Kinder? Oder ein Kinderspielcafé, wo es natürlich nur Kakao gibt? Nein. Schulpflicht, schnell wachsen, Arbeit und punkt. Und am besten wir sehen diese Kinder und Jugendlichen während dieser Zeit nicht. Oder sprechen Sie mit Kindern und Jugendlichen? Sie sind doch in keiner Weise Teil irgendeines öffentlichen Diskurses. Sie tun, was ihre Eltern ihnen sagen, um es ihnen später an den Kopf zu werfen, denn so tun es ihre Eltern mit der Regierung auch. Und so wiederholen sich diverse Muster von Generation zu Generation, insbesondere die problematischen Muster und Systeme, die unsere Gesellschaften kaputt gemacht haben.
Es ist wichtig, diese Systemfragen hinsichtlich der Isolation des Kindes in der bundesdeutschen Gesellschaft zu hinterfragen. Warum müssen Kinder zur Schule? Warum dürfen sie nicht mit zur Arbeit? Warum gibt es keine kindergerechten Spielorte oder jugendfreundliche Zentren? Was erwartet man denn von diesen Kindern und Jugendlichen, wenn man sie faktisch gar nicht ernst nimmt? Sie sollen erstmal erwachsen werden, jaja. Aber dann reden sie nicht mehr viel und zünden sofort Autos an, weil sie merken, dass wir sie alle belogen haben. Die ganze Generation belügt die nächste Generation. Und genau hier liegt der Hund begraben. Das muss aufhören.
Ich plädiere für ein Selbstbestimmungsrecht für Kinder und Jugendliche. Sie sollten sich nicht immer an Erwachsene richten müssen. Man bedenke auch, dass Polizisten nicht ständig auf alle Kinder aufpassen können. Erst Recht nicht bringen Polizisten die Nerven mit, äußerst harte Kriminalfälle mit Kindesmissbrauch zu durchblicken. Das sollte ihnen die Gesellschaft auch nicht aufbürden.
Es ist hierzu von Vorteil, wenn man sich einfach fragt, wie man selbst als Kind behandelt werden wollte, und ich weiß, Sie wurden definitiv nicht so behandelt. Also, respektieren Sie Kinder und hören Sie den Jugendlichen zu. Kinder und Jugendliche sind die Spiegel unserer Gesellschaft, und damit sind sie Spiegel all dessen, was wir Gemeinschaft nennen. Sie sollten nicht isoliert werden, so riskant auch das klingen mag. Wenigstens wären sie dann vor unseren Augen, und nicht versteckt in irgendwelchen Gartenlauben mit mehreren fremden Männern, obwohl wir denken, dass sie beschult werden, da sie ja – so der uralte Zeitgeist – zur Schule müssten.
Ich hoffe, dass diese fehlenden Bedingungen innerhalb unserer Gesellschaft bald auftauchen. Ansonsten sehe ich dunkelschwarz für unsere Zukunft. Ein Leben ohne Kindheit ist unersetzbar. Eine Gesellschaft ohne Kindheit fällt vier Generationen zurück.